Ich fühle mich angesichts der Tatsache, dass immer häufiger auch
Theolog(inn)en die Jungfrauengeburt Jesu leugnen und damit die Menschwerdung Gottes
in Frage stellen, genötigt, hier ein paar Worte zu dieser Beobachtung zu sagen.
Es ist wohl klar, dass nach wissenschaftlicher Erkenntnis eine Jungfrauengeburt nahezu
unmöglich ist. Ich denke, dass die Zweifel daran vor allem durch den sogenannten
Übersetzungsfehler (im Hebräischen „junge Frau”, im Griechischen
„Jungfrau”) begonnen haben. Doch hat dieser „Übersetzungsfehler”
kaum Relevanz, denn das eine bedeutete damals das Gleiche wie das andere. Es war nicht, wie
heute, üblich, dass Geschlechtsverkehr vor der Ehe vollzogen wurde, und die „Unversehrtheit”
der Frau zum Zeitpunkt der offiziellen Hochzeit galt als ein hohes Gut. Das erkennt man auch
daran, dass Joseph Maria verlassen will, als er erfährt, dass sie schwanger ist. Ob die Motivation
zu diesem Schritt die Sorge um seine Braut, wie es berichtet wird, oder nicht doch eher die Sorge um seinen
eigenen Ruf (er heiratet eine Dirne) ist, sei mal dahingestellt.
Die darum bleibende Vermutung, dass Maria mit einem anderen Mann geschlafen habe, ist
auszuschließen, was sich auch aus den folgenden Überlegungen ergibt.
Wesentlich scheint mir der Umstand, dass Maria unter der Schar der Jünger war, nachdem
Jesus in den Himmel aufgenommen worden war. Denn das bedeutet, dass, wenn die Erzählung von
der Jungfrauengeburt nicht der Wahrheit entsprochen hätte, sich diese dann auch nicht
erhalten hätte. Früher oder später wäre dieser Betrugsversuch (vor allem, wenn er, wie
heute oft behauptet, allein dem Zweck diente, patriarchale Strukturen zu verstärken)
aufgeflogen, so wie Jesus als Scharlatan aufgeflogen wäre (was ja für viele andere
Möchtegern-Messiasse der damaligen Zeit gilt).
Ein weiterer Grund für die Leugnung der Jungfrauengeburt dürfte das Unbehagen sein, das
sich inzwischen zu dem Thema „Erbsünde” eingeschlichen hat. Im humanistischen
Geist möchte man davon ausgehen, dass der Mensch fähig ist, ein schuldfreies Leben zu führen.
Das ist auch äußerlich durchaus wahr, es hängt aber ganz wesentlich davon ab, was man unter
Schuld bzw. Sünde versteht. Bei Sünde reden wir von einem gestörten Verhältnis zu Gott, bei
Schuld denken wir eher an den Verstoß gegen ein Gesetz. Das zweite würde, wenn alle gegen das
Gesetz verstoßen hätten, natürlich zu einer hoffnungslosen Überlastung des Justizsystems
führen, was nicht geschieht, weil eben die meisten Menschen „unbescholtene Bürger” sind.
Das erste sieht anders aus. Hier müssen wir auch die Antithesen der Bergpredigt Jesu
berücksichtigen, die uns deutlich machen, dass Schuld vor Gott nicht erst durch die Tat
entsteht, sondern schon dann eintritt, wenn wir böse Gedanken gegen unsere Mitmenschen hegen.
Und es ist, angesichts der Beispiele, die Jesus anführt, wohl tatsächlich unmöglich, dass
ein Mensch in diesem Sinn frei von Sünde ist.
Dass wir bei diesen Überlegungen bisher das Konzept der „Erbsünde” noch nicht einmal berührt haben, zeigt
eigentlich nur, dass dieses Konzept im Grunde eine untergeordnete Rolle spielt. Aber in jedem Menschen schlummert
ein Egoist (oder er ist hellwach), auch wenn sich dies vielleicht nur darin ausdrückt, dass man
über seine eigene Situation bedrückt ist, weil sie so kläglich zu sein scheint (man hat nicht den Erfolg,
den andere vorweisen können, usw.). Auch dies wäre biblischerseits schon Sünde, weil durch solche
Gefühle die Gaben Gottes (man hat ja in der Regel genug zum Leben) geringgeschätzt werden.
So könnte es immer weiter gehen...
Das Lied „Die Gedanken sind frei” bezeugt die Tendenz, nur äußerlich tatsächlich begangene
Schuld auch als relevant anzusehen. Aber Gott sieht und kennt unsere Gedanken, er sieht
ins Herz, und darum kann eine solche Haltung nur in die Irre führen. Es bleibt also die
Tatsache, dass wir eine Versöhnung mit Gott brauchen, und diese vollzieht sich nicht durch
unseren guten Willen, sondern durch den Sühnetod des Gottessohns Jesus, wovon heute allerdings
viele nicht mehr reden wollen.
Dennoch wird an einer neuen christlichen Theologie, die in Jesus nicht mehr als ein positives
Beispiel des Menschen sieht, weitergebaut. Die Glaubensbekenntnisse werden in der Folge solcher
Bemühungen in Frage gestellt, was zur Folge hat, dass auch die Worte der Bibel zu einem guten
Teil nicht nur in Frage gestellt, sondern als Lüge angesehen werden müssen. Was bleibt dann als
Grundlage des christlichen Glaubens? Die Antwort kann eigentlich nur sein: ein Glaube an den
Menschen. Und tatsächlich kann man diese Tendenz, die letztlich zu einem Sterben der (Institution) Kirche
führen wird, auch immer deutlicher beobachten.
Im Blick auf die Institution Kirche wäre in diesem Zusammenhang wohl vor allem dies zu sagen: sie bemüht
sich, dem Zeitgeist gerecht zu werden. Dabei biedert sie sich regelrecht an, indem sie alles, was dieser
Zeitgeist für richtig hält, irgendwie geistlich zu legitimieren versucht, anstatt sich um eine sorgfältige
theologische Diskussion zu bemühen, in der man nicht, auf dem bereits eingeschlagenen Kurs bleibend, die
Bibel als historisches und von Menschen geschriebenes Dokument, sondern als Zeugnis des Glaubens und der
Geschichte des Menschen mit Gott ernst nimmt. Beim Anbiedern an den Zeitgeist geht ein Gedanke völlig
verloren: dass Gott der Ewige ist und mit der Zeit eigentlich gar nichts am Hut hat. Für ihn ist gestern
und morgen immer „jetzt”. Und das bedeutet im Grunde nichts anderes, als dass der Zeitgeist
für Gott keine Rolle spielt. Es ist richtig, dass die Kirche das Wort der Versöhnung immer neu formulieren
muss, damit es auch gehört und angenommen werden kann. Das bedeutet aber nicht, dass man wesentliche
Grundelemente dieses Wortes der Versöhnung verschweigt, weil man der Ansicht ist, dass jene nicht mehr
zeitgemäß seien.
Angesichts des Ukrainekrieges, angesichts von Unfällen und Krankheiten stellen viele immer wieder die Frage,
wie Gott „so etwas” zulassen kann, und stellen damit letztlich Gott in Frage. Dass wir längst
über diese Fragestellung (Theodizee) hinaus sind, sollte die Kirchengeschichte eigentlich lehren, aber leider
werden die Theologen des letzten Jahrhunderts, die in dieser Beziehung meist eine große Tiefe
entwickelt haben, kaum mehr gehört, geschweige denn ernst genommen. Man will ein „modernes”,
„zeitgemäßes” Christentum und gibt dafür ganz wesentliche Elemente des christlichen
Glaubens auf. Dabei sollte man immer auch die Frage stellen: wenn man Gott nicht zutraut, dass er eine Frau nach
seinem Willen „schwängern” kann, wie will man dann glauben, dass er die Welt und das Universum
geschaffen hat? Aber auch das will man ja gar nicht mehr glauben (bleibt aber trotz der besten Evolutionstheorie
(die bis heute lückenhaft ist) immer noch die Frage, was vor dem Urknall war...).
Martin Senftleben