das Kirchenjahr

19. Sonntag nach Trinitatis

Heilung an Leib und Seele

Predigtanregungen

Der 19. Sonntag nach Trinitatis hat die ganzheitliche Heilung zum Thema. „Ganzheitlich” ist ein Schlagwort unserer Zeit, und es wäre hilfreich, wenn eine Verbindung zum heutigen Verständnis von den Predigttexten her abgeleitet werden könnte.

Zu den Perikopen

  • I: Joh 5, 1-16

    Der Umfang der Perikope ist schlecht gewählt, Vers 16 sollte man eigentlich weglassen, weil er überleitet zum nachfolgenden Text und darum nur im Zusammenhang mit Vers 17 richtig verstanden werden kann. Von daher empfehle ich eine Begrenzung auf die Verse 1-15.
    Wie eigentlich immer im Johannes-Evangelium, ist auch dies eine durchaus spannende und mit Liebe fürs Detail erzählte Geschichte.
    Da ist ein Kranker. Welcher Art seine Krankheit ist, wird nun gerade nicht erzählt, nur dass er schon 38 Jahre bettlägerig ist. Eine kaum vorstellbare Zeit. Er kann sich wohl etwas fortbewegen, aber nur sehr langsam, denn andere erreichen immer vor ihm diesen sagenhaften Teich Betesda. Kein Mensch hilft ihm, das ist angesichts des Otes, an dem er sich befindet, schon etwas merkwürdig. Vielleicht geht gerade darum Jesus direkt auf diesen Menschen zu? Zugleich ist aber zu vermuten, dass dieser Kranke nicht der einzige ist, der niemanden hat, der ihm hilft.
    Jesus heilt diesen Menschen ohne großartige Geste, es sind nur die paar Worte: 'Steh auf, nimm dein Bett und geh hin', nachdem ihm der Kranke sein Leid geklagt hatte. Es wäre merkwürdig, wenn an dieser Stelle nicht noch eine Auseinandersetzung mit den Gesetzestreuen folgen würde. Denn diese Auseinandersetzung ist es wohl, auf die es letztlich bei unserer Geschichte ankommt. Der am Sabbat "Arbeitende" wird zur Rede gestellt, doch der weiß gar nicht mal, wer ihn geheilt hat. Jesus ist hingegen schon außer Reichweite. Wissen "die Juden" (Vers 10) nicht längst, dass es nur Jesus sein kann? Es ist wohl notwendig, dass der Geheilte selbst zunächst Jesus richtig erkennt. Jesus kehrt zu ihm zurück. Es ist fast, als habe er nach der Heilung des Kranken fluchtartig die Szene verlassen, was merkwürdig erscheint. Denn jetzt erst sagt er, was er dem sicher erstaunten Geheilten schon unmittelbar nach seiner Heilung hätte sagen können: "Sündige hinfort nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre." Diese Worte bereiten einem Kopfschmerzen, bringen sie doch Sünde in unmittelbaren Zusammenhang mit Krankheit und Schmerz. Wir wissen, dass dies nicht so ist; vielmehr erleben wir oft, dass es dem Sünder besser geht als dem, der sich müht, das Richtige zu tun.
    Sofort begibt sich der Geheilte zurück zu "den Juden" und sagt ihnen, dass es Jesus war, der ihn geheilt hat. Daraufhin beschließen "die Juden", Jesus zu verfolgen, weil er dies am Sabbat getan hatte. Merkwürdig ist hier nur, dass der eigentliche Sabbatverstoß doch nur das Tragen des Bettes war...
    Der Predigttext stellt uns vor allem im Blick auf die Verknüpfung von Sünde und Leid vor ein großes Problem. Auflösen kann man dieses Problem vielleicht, indem man die Krankheit selbst als ein Bild für "in Sünde gefangen" interpretiert. Hiergegen spricht nur der ganze Rahmen, der ganz bewusst die Krankheit real werden lässt. Offenbar hat es den Teich gegeben, und der entsprechende, in den nachträglich eingefügten Versen 3b-4 genannte Glaube scheint ebenfalls existent gewesen zu sein. Somit bleibt das Problem bestehen, dass hier Sünde und Leid miteinander verknüpft werden.
    Eine andere Möglichkeit der Erklärung ist, in der Warnung, die Jesus ausspricht, schlicht den Hinweis zu erkennen, dass dem Geheilten, wenn er der Sünde verfällt, Schlimmeres zu erwarten hat, nämlich die ewige Verdammnis. Denn sonst kann es wohl kaum etwas Schlimmeres geben, als 38 Jahre lang krank und kaum beweglich zu sein.
    Der kirchenjahreszeitliche Zusammenhang erlaubt, mehr zu vermuten als nur eine reine Krankenheilung. Der Kranke war offenbar auch krank an der Seele, und nicht nur am Körper. Worin bestand aber sein seelisches Leiden? Wohl in der Tatsache, dass er allein war, ohne jegliche Hilfe, und dass er (vermutlich) von den anderen beiseite geschubst wurde, wenn sich das Wasser bewegte, so dass er nie das Wasser erreichen konnte. Wenn dies seine Not war, ist auch zu verstehen, warum sich Jesus ihm zuwendet und niemandem sonst. Aber dies wird in der Geschichte nicht ausdrücklich artikuliert.
    Jedenfalls kann die Predigt auf diesem Gedanken aufbauen: Jesus wendet sich gerade den Einsamen und darum an der Seele Kranken zu. In diesem Sinne ist er sogar unter Kranken "wählerisch", denn es gibt auch Kranke, die seine Hilfe nicht brauchen (oder gar ablehnen?).

  • II: Eph 4, 22-32

    folgt später

  • III: Jes 38, 9-20

    folgt später

  • IV: Mk 2, 1-12

    Diese Geschichte nimmt eine merkwürdige Wendung da, wo Jesus "ihren Glauben erkennt" und daraufhin dem Gelähmten seine Sünden vergibt. Diese Wendung ist sehr problematisch, zumal sie durch nichts begründet ist. Sicher, dass die Menschen den Gelähmten durch das Dach herablassen, ist schon bemerkenswert, aber es gab sicher viele andere Kranke in der Menge, die ebenso geheilt werden wollten. Auch sollte doch der Glaube derer, die den Gelähmten gebracht haben, nicht ausschlaggebend sein für das Handeln Jesu an dem Gelähmten. Ist da nicht die Haltung des Kranken selbst von Bedeutung? Aber das Motiv der Fürbitte haben wir auch anderswo, und Jesus heilt Menschen, die selbst vielleicht gar keinen Glauben haben, deren Verwandte, Vorgesetzte oder Freunde aber Glauben bewiesen haben und gewissermaßen für die Kranken glauben.
    Es fehlt natürlich auch der Anlass dafür, dem Gelähmten seine Sünden zu vergeben. Wieso braucht er diese Vergebung? Weil er gelähmt ist? Dies würde eine sehr problematische Kausalität vorstellen, vor der wir uns hüten müssen. Es wäre zu einfach, den Stab über Kranke zu brechen: sie haben es ja nicht anders verdient. Und wenn der Gelähmte von Geburt an gelähmt war, was kann er dann Böses getan haben? Natürlich gibt es immer Grund, Vergebung zu empfangen und auch zu erbitten, aber gerade in diesem Zusammenhang erscheint alles recht konstruiert. Und das ist es wohl auch, denn alles läuft ja auf die Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten hinaus.
    Der Anspruch der Schriftgelehrten leitet sich klar aus dem kultischen Denken ab: Wenn einer Schuld auf sich geladen hat, muss er Gott durch einen entsprechenden (Opfer-)ritus dazu bewegen, diese Schuld wieder wegzunehmen (= vergeben). Wie groß das Opfer sein muss, ist hinreichend deutlich in den Schriften geklärt und wird von den Priestern überwacht. Jesus setzt sich also über den Kult hinweg, womit er natürlich provoziert. Allerdings nur, wenn man nicht weiß, dass er der Sohn Gottes ist und somit tatsächlich die Vollmacht hat. Da aber diese Gottessohnschaft von den Schriftgelehrten ohnehin nicht anerkannt wird, bleibt er in ihren Augen Mensch und lädt mit dem, was er tut, selbst Sünde auf sich.
    Jesus hingegen macht denen, die ihn in seiner wahren Gestalt erkennen, deutlich, dass es keine Notwendigkeit für irgendeinen Opferkult gibt, sondern dass der Weg direkt zu ihm führt und dass er ohne Vorleistung (mit Ausnahme des Glaubens) Schuld vergibt. Den Schriftgelehrten, die nicht glauben, gibt er den physischen Beweis seiner Macht, indem er den Gelähmten heilt.
    Der kirchenjahreszeitliche Zusammenhang legt den Schwerpunkt auf den doppelten Heilungsprozess, wobei in dieser Perikope aber doch die Kritik am Opferkult nicht zu übersehen ist. Aber auch dies kann aus dem Predigttext heraus erkannt werden, dass Gottes Heilung vollkommen ist und sich nicht nur auf Äußerlichkeiten beschränkt. Gott sieht den ganzen Menschen (wobei man nach wie vor überlegen kann, warum der Gelähmte die Vergebung seiner Sünden braucht).
    Für die Predigt ist wichtig, eine Linie zu verfolgen. Man muss viel dazu erfinden, wenn man sich auf den Gelähmten stürzt, von dem ja kaum etwas berichtet wird, außer dass er sein Bett nimmt und hinausgeht (er dankt noch nicht einmal für die Heilung!). Interessanter wären da schon die, die ihn bringen: die Gemeinde vielleicht, die "schuldig gewordene" zu Gott bringt - in der Fürbitte oder auch physisch? Oder eben die Schriftgelehrten, die Jesus auf der geistlichen Ebene angreifen und anzweifeln. Mit welcher Gruppe können sich die Zuhörer am ehesten identifizieren? Ich würde wohl die wählen, die den Gelähmten bringen, und ihren Glauben im Gegenüber zu den Zweifeln der Schriftgelehrten verdeutlichen. Diesen Glauben finden wir auch in unseren Gemeinden, wenn sich Menschen um ihre Mitmenschen kümmern, für sie sorgen, sich ihnen zuwenden und sie letztlich damit vor Gott bringen.

  • V: Jak 5, 13-16

    Ein schöner Abschnitt aus dem Jakobusbrief. Von dem Vers 14 leitet die römische Kirche ihre Praxis der Krankensalbung ab. Eine Aktion, die die Verbindung zwischen Leib und Seele herstellt. Wichtiger für uns ist der Aufruf zum Gebet für den Kranken, denn letztlich kann doch nur durch das Gebet dem Kranken geholfen werden, wie es scheint.
    Offensichtlich kommt hier im Text die Erfahrung zum Tragen, dass Gebet nicht immer erhört wird, denn es werden an das Gebet zwei Bedingungen gestellt (Vers 16): Es muss von einem "Gerechten" gebetet werden, wobei hier sicherlich der gemeint ist, der all sein Vertrauen auf die Erlösungstat Jesu Christi setzt, und: es muss ernstlich sein. Beide Bedingungen können nicht ohne Weiteres verifiziert werden; somit kann Jakobus nicht der Vorwurf gemacht werden, er habe etwas behauptet, was nicht wahr ist. Dass er im Nachfolgenden (V. 17-18) Elia als Beispiel für einen erfolgreichen Beter heranführt, untermauert noch sein Anliegen: niemand würde sich mit Eliah gleichstellen wollen.
    Der Abschnitt handelt davon, wie man sich beim Eintritt einer Krankheit oder eines anderen Leidens verhält (Der Unterschied zwischen "Leidet einer..." (V. 13) und "Ist jemand ... krank..." (V. 14) ist gewiss nicht ohne Bedeutung; es scheint mir aber angemessen, "Krankheit" und "Leiden" als gleichwertige Phänomene nebeneinander zu stellen und nicht weiter auf diesen Unterschied einzugehen). Zunächst soll der Kranke selbst beten; und wenn er guten Mutes ist, d.h. wenn es ihm besser geht, soll er Psalmen singen. Krankheit wird dadurch in den Kontext des Heilsgeschehens gestellt, das Gott an den Menschen gewirkt hat. Krankheit kann überwunden werden. Dabei wird auch deutlich, dass diese Überwindung der Krankheit nicht zwangsläufig Gesundung bedeutet. Jakobus sagt ja nicht: 'des Gerechten Gebet macht gesund', sondern nur: 'Des Gerechten Gebet vermag viel'. Und was das alles ist, kann man sich kaum vorstellen. Es wird letztlich darauf hinauslaufen, dass das Gebet die Gewissheit vermittelt, von Gott geliebt zu sein, ob man nun leidet oder nicht. Man wird also durch das Gebet ermutigt, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken, auch wenn diese Zukunft evtl. den Tod und nicht die Genesung bringt.
    Der kirchenjahreszeitliche Zusammenhang will uns aber doch auf etwas anderes aufmerksam machen: die Krankensalbung. Denn es geht ja an diesem Sonntag um die Heilung an Leib und Seele. Das Gebet, so wie Jakobus es sieht, scheint der Stärkung der Seele vor allem anderen zu dienen. Die Salbung aber dient dem Körper. Auch dies mag letztlich nur scheinbar so sein. Das Wohltuende, das von einer Berührung ausgehen kann, darf aber nicht unterschätzt werden. Uns stehen heute weit mehr Mittel zur Verfügung als die bloße Salbung, um Krankheiten zu bekämpfen. Die medizinische Forschung bringt täglich neue Medikamente hervor. Die Predigt mag an dieser Stelle ansetzen und darauf aufmerksam machen, dass das aber nicht alles ist. Wenn der Körper wieder gesund ist, ist es die Seele u.U. noch lange nicht. Gleichzeitig kann das Gebet nicht die einzige Möglichkeit sein, Kranken zu helfen. Beides zusammen aber tut, was wir einander schuldig sind: Heilung an Leib und Seele.

  • VI: Ex 34, 4-10

    folgt später

  • Marginaltexte: 1. Mose 9, 12-17 (= Gen 9, 12-17)
    Mk 1, 32-39
    1. Kor 9, 16-23 (s. Reihe M am 2. S. n. Trinitatis und Reihe I/IV am 24. S. n. Trinitatis)

    Zu Mk 1, 32-39:
    Die Perikope beginnt mit einer maßlosen Übertreibung. Sicherlich wurden nicht alle Kranken und Besessenen zu Jesus gebracht, und sicherlich versammelte sich auch nicht die ganze Stadt vor der Tür. Diese Übertreibung hat wohl zum Ziel, Jesu Beliebt- und Berühmtheit schon zu Beginn seiner Wirkenszeit herauszustellen. Wieder taucht das Motiv des Messiasgeheimnisses auf: die Geister kennen ihn, dürfen aber nichts "verraten". Natürlich darf man fragen, warum, wenn ohnehin alle Welt von ihm weiß, soll seine Identität verborgen bleiben. Aber diese Welt sah in ihm bisher ja nur den Wunderheiler, und nicht den Messias, der die Menschheit von ihren Sünden erlösen sollte. Diese wahre Identität sollte verborgen bleiben.
    Der zweite Teile der Perikope erzählt zunächst, dass Jesus sich frühmorgens aufmacht, um zu beten. Die Jünger berichten von "jedermann", die Jesus suchen, also wieder die Menge, alle, denn die Jünger waren ja schon zusammen zu ihm gekommen. Es kann also nicht sein, dass hier auf die restlichen Jünger hingewiesen wird. Wieder ist es merkwürdig, dass so früh (noch vor Tage) die Menge schon wieder (oder noch immer?) auf ist, um Jesus zu begegnen. So viel Berühmtheit kennt man in unserer Zeit nur von Pop-Idolen, die im Übrigen auch eine geheimnisvolle Aura ihrer wahren Existenz umgibt. Jeder möchte das persönlichste über ein solches Pop-Idol erfahren, und doch ist es nur sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich, diese Informationen zu erlangen.
    Jesus will nicht an diesem Ort bleiben und zieht mit seinen Jüngern los, um auch in den anderen Städten Galiläas zu predigen und böse Geister auszutreiben.
    Damit hat die Perikope sich schon erschöpft. Sie wäre eine simple Erzählung, wenn nicht immer wieder diese Menge erwähnt würde, die sich auf Jesus stürzt. Der Text steht ganz am Anfang des Markus-Evangeliums und erzählt von den Anfängen des Wirkens Jesu. Schon deswegen ist es eigentlich merkwürdig, dass die Menge so auf ihn "fliegt". Es gab keine großartige Publicity, nur eine Heilung, eine Austreibung und eine - allerdings vollmächtige - Predigt. Vielleicht hatte sich "die Menge" schon lange nach solche einem Menschen gesehnt und nun die Erfüllung ihres Hoffens erfahren?
    Es mag wieder hilfreich sein, den kirchenjahreszeitlichen Zusammenhang zu betrachten. Der Text bietet dafür allerdings nicht viel. Wohl stehen Austreibung, Heilung und Predigt, also die Elemente, die ganzheitliche Heilung verdeutlichen, beieinander, aber das alleine genügt nicht, denn zumindest von der Predigt redet Jesus in dieser Perikope nur, er tut sie aber nicht. Das Besondere des Textes ist hingegen die Wirkung Jesu auf die Menschen. Offenbar haben sie hohe Erwartungen. Offenbar war der Schrecken, den er ihnen durch seine Predigt einflößte, zugleich heilsam. Sein heilendes Handeln an den vielen Kranken und Besessenen war offensichtlich. Wäre es möglich, in der Predigt diese Wirkung nachzuvollziehen? D.h. nun nicht nur von seinen physisch heilenden Kräften zu reden, sondern auch davon, dass er die Erwartungen der Menschen erfüllt, ohne, dass sie es bisher selbst genau wissen, was sie eigentlich erwarten? Der unbekannte Gott, der aber schon längst da ist und unter den Menschen wirkt?
    Jeder Mensch hat unerfüllte Hoffnungen, auf die durch diesen Predigttext eingegangen werden kann, denn der Predigttext sagt uns, dass Jesus fähig ist, diese Hoffnungen zu erfüllen. Wir hoffen auf die Dinge, die uns zu einem "ganzheitlichen Leben" fehlen. Diese Dinge können uns durch Jesus geschenkt werden.

    Zu 1. Kor 9, 16-23:
    Der Christ gibt sich als Chamäleon, so mag einem dieser Text erscheinen. Er passt sich der Umgebung an, um nur nicht aufzufallen. Doch nein, so sind die Worte des Paulus nicht zu verstehen. Im Gegenteil. Paulus äußert ein ganz spezifisches Ziel: das Evangelium allen Menschen zu verkündigen. Dazu ist er berufen, das muss er tun. Aber er tut es nicht, indem er sich voll Ignoranz irgendwo hinstellt und drauflos predigt, sondern indem er sich mit der Umwelt, in der er sich befindet, ausgiebig befasst. Er bemüht sich, Ansatzpunkte zu finden (s. die Areopagrede, Apg 17), an denen er mit seiner Verkündigung anknüpfen kann. Denn nur, wenn die Hörer sich in ihrer Situation verstanden fühlen, sind sie auch bereit, zuzuhören.
    Paulus hat diese Notwendigkeit erkannt und passt sich dementsprechend an, immer mit dem einen Ziel, das Evangelium zu verkündigen.
    Dabei weist er darauf hin, dass die Verkündigung des Evangeliums seine Pflicht ist, an der er nicht vorbeikommt. Es scheint fast, als sei es ihm aufgezwungen. Aber das ist wohl eher so zu verstehen, dass er die Wahrheit des Evangeliums erkannt hat und deswegen auch die zwingende Notwendigkeit sieht, diese Wahrheit weiterzusagen, weil er weiß, dass die Menschen diese Wahrheit brauchen. Nach einem Lohn fragt er dabei nicht, er ist frei geblieben, unabhängig, damit ihm niemand vorschreiben kann, wie er das Wort verkündigt.
    An dieser Stelle wäre ein kleiner Exkurs denkbar: Volkskirche oder Freiwilligkeitskirche? Die Volkskirche sichert den Predigern ihr Einkommen, wobei der Prediger frei bleibt, das Evangelium so zu predigen, wie er es für richtig hält. Natürlich gibt es Kontrollmechanismen, die auch eingesetzt werden müssen, aber es ist letztlich nicht die Gemeinde, die dem Prediger, wenn er ihr nicht gefällt, einfach das Auskommen verweigern kann. Bei einer Freiwilligkeitskirche ist die Verbindung zwischen Prediger und Gemeinde viel enger: wenn der Prediger nach Ansicht der Gemeinde schlecht ist (was auch und gerade dann der Fall sein kann, wenn der Prediger die Wahrheit zu sagen versucht), wird ihm einfach sein Gehalt verweigert. Zwar ist dies nur sehr skizzenhaft und oberflächlich dargestellt, aber dieser Text hilft dazu, darüber nachzudenken.
    Der kirchenjahreszeitliche Zusammenhang ist zwar nicht offensichtlich, aber doch erkennbar: Paulus bemüht sich, Wege zu finden, die Menschen einzuladen, das Evangelium anzunehmen. Dabei respektiert er das kulturelle und soziale Umfeld der Adressaten seiner Verkündigung vollkommen. Er zeigt keine Arroganz, sondern Verständnis, und kann so auch einladend wirken.
    Ähnlich muss eigentlich jede Predigt sein. Sie muss die Menschen da abholen, wo sie sind. Das sollte gerade in dieser Predigt besonders deutlich werden. Sie sollte einladen zur Liebe Gottes, die sich auf vielfältige Weise offenbart, und dazu ermutigen, sich vertraut zu machen mit dem Fremden, um dann auch selbst über den eigenen Glauben reden zu können.



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